An einem fremden Ort

IMG-20140601-WA0000Das Zimmer ist klein mit zwei Hotelbetten darin. Ich gehe zum Fenster und schiebe die schweren Lagen von Vorhängen zur Seite. Er müsste bald da sein, wir hatten uns nach meinem Flug im Hotel um Mitternacht verabredet. Ich schaue hinaus auf die Straße und da steht er tatsächlich, als wäre es alltäglich, nur dass es an einem fremden Ort der Welt ist. Zeitgleich schaut er hoch und grinst mich breit an, seine Augen sind nur noch Schlitze. Er wartet mit großen Kopfhörern auf den Ohren und einer Zigarette in der Hand. Ich bekomme von ihm eine teure SMS an mein deutsches Smartphone: „Ich sehe dich.“

„Kommst du mit runter?“, frage ich die süße Natalie, „ich will mir eine zweite Schlüselkarte geben lassen, damit ich dich nachts nicht wecken muss, wenn ich zurück komme.“ Wir gehen zu zweit in die Lobby. Durch die aufgleitende  Glastür sehe ich Markus noch auf der Straße stehen. Aufgedreht umarme ich ihn schnell, bevor ich mir eine eigene Karte vom Personal geben lasse. Tschüs, Natalie, schlafe gut. Dann bin ich mit Markus draußen in der Nacht von Istanbul.

Die Straßen sind schief und führen hinunter zum Hafen. Ich kann mir nicht helfen und hüpfe ein wenig. Während Markus etwas erzählt, falle ich ihm ins Wort: „Ich bin Istanbul!“ Dann muss er noch einmal von vorne anfangen, denn ich konnte mich nicht auf seine Worte konzentrieren. Wir laufen weiter, denn keine Bahn fährt mehr; einfach weiter, weil es so schön ist.

Während andere Städte schlafen gehen, lebt Istanbul nachts einfach weiter. Ein Mann grillt am Straßenrand, in dem er Kohle auf die dreckigen Pflastersteine häuft. Gegenüber von ihm reihen sich Angler auf der Brücke über das Wasser, die ihre langen Angeln über das Geländer schwingen. Etwas zieht an meinem Fuß, ich schaue an mir herunter und erkenne, dass ich in einer Angelschnur verheddert bin. Ich kichere, weil es mir peinlich ist, und entwirre mich. Markus lacht mich aus: „Ich denke die ganze Zeit, dass ich auf einer Brücke hoffentlich nicht an einer Angelschnur hängen bleibe und du bist zehn Minuten in Istanbul und es passiert dir!“ Ein sich in einem Plastikeimer kreisenden Fisch mit todgeweihten Blicken lenkt mich ab, da werde ich weitergezogen.

Zwischen den lauten Menschen bewegen sich wilde Hunde und Katzen, die weder verscheucht noch ignoriert werden. Ein Müllmann pfeift einen dösenden Hund heran, damit dieser die Mülltonne untersuchen kann, bevor er sie leert. Wir sehen eine Gruppe von beiden Tierarten, die gemeinsam einen Park mit trockenem Boden und steilen Treppenstufen durchstreifen. Wir setzen uns auf eine Mauer (und ich mich in eine Nacktschnecke) und führen schillernde Gespräche, die sofort in der warmen Nachtluft verpuffen.

Wir fahren mit dem Dolmus, eine Art Sammeltaxi, ein Stück, dann erklimmen wir die letzten steilen Meter bis zu Markus‘ Wohnung. Er wohnt in Üsküdar, einem – laut Markus – ruhigeren Stadtteil aus der asiatischen Seite Istanbuls. Sofort kommt die Terror-Katze angesprungen, vor ihr wurde ich schon gewarnt. Sie ist eigentlich eine wilde Katze, die sich die WG aber als Hauptquartier ausgesucht hatte. Nun wohnt sie ebenfalls dort, keine Widerrede erlaubt. Sie ist rot und umgarnt sofort Markus‘ Beine. Ich finde sie liebenswürdig, aber anscheinend hat sie noch ein zweites Gesicht, dass ich noch nicht kenne.

Von der Terrasse aus sieht man auf geschichtete Dächer, neben uns ragt ein spitzer Turm einer kleinen Moschee in die Höhe. Es riecht nach dem Stein, aus dem die Häuser gebaut sind. Auf meiner Zunge schmecke ich immer wieder ein Schluck Rum, den ich aus Deutschland für Markus mitgebracht habe. Auf Markus‘ Terrasse wirkt es doch so, als wären wir die einzigen, die noch wach werden. Doch der Schein trügt, denn mitten durch unsere Wortschwalle schallt der Gebetsruf. Zuerst von einer großen Moschee weiter weg, dann folgen die kleineren und auch die neben uns. Wir verstummen.

Selbst danach sind wir ruhiger und blicken noch auf die Stadt. Wir werden müde und sollten dringend schlafen. Doch für den Moment will ich mich an den dünnen Fäden festhalten und den Tag noch nicht zu Ende nennen. Ich bin in Istanbul.

Foto: Markus (Der Blick von der Terrasse)