Bob Marley und das Meer

Grau. Der Himmel über mir und die Straße unter mir, dazwischen der nebelige, graue Horizont. Ich sitze in einem Bus mit acht Sitzen – grau, innen und außen. Meine Mitfahrgelegenheit nach Tübingen ist ein junger Mann mit einem Piercing in der Nase, ein vergessenes Requisit aus der wilden Zeit. Neben ihm sitzt seine Frau, oder Freundin, oder Bekannte. Jedenfalls gehen sie  anstrengend organisierend miteinander um, da bin ich liebevoller zu meinem Toaster am Morgen. Wortfetzen erreichen mich hinten: „Vielleicht hätten wir einfach Spezialkleber benutzen sollen…“ Neben mir tippt ein Mädchen mit Klamotten passend zu einer Yacht auf ihrem Handy. Sie hat Schwierigkeiten, da ihre Fingernägel mit Strasssteinchen beklebt sind. Hinter mir schlafen noch zwei Mädels Marke H&M, ich kann sie nicht auseinander halten. Das einzige, was vom Grau ablenkt, ist die sonnige Musik aus den schrottigen Boxen: Bob Marley. Ich schließe die Augen und singe in meinem Kopf lautstark mit: „I don’t like Raggae! Duh, no no!“ Chilliges Kopfwippen. „I love it!“ Als ich die Augen wieder öffne, gibt es nicht mehr nur staubiges Grau, sondern knalliges Pink, tiefes Blau und kribbelndes Geld. Im Bus sitzen meine Freunde, auf engsten Raum mit Mülltüten, einem Bierkasten unter dem Sitz und frischen Obst von den Bäumen auf dem Amaturenbrett. Meine Knie sind gegen den Fahrersitz gestemmt und eingekuschelt in die selbstgestrickten Flickendecke meiner Mama betrachte ich draußen die sommergrüne Landschaft. Der Himmel ist jetzt unendlich blau, der Boden erdig braun und in meiner Brust breitet sich dieses Gefühl aus von: „Und jetzt die Welt anhalten und es wäre perfekt“. Wir fahren steil bergauf, die Bäume werden immer blattloser, je näher wir der Sonne kommen. Plötzlich kommen wir ruckend zum Stehen und von vorne höre ich es rufen: „Da sitzt ’ne Katze auf der Straße!“ Und noch lauter: „Verpiss dich!“ Ich luke aus meiner bunten Decker hervor und sehe, wie sich die Katze grinsend an den Pfoten herumnagt ohne sich vom Platz zu bewegen. Wir nutzen die erzwungene Pause und setzen uns an den Wegrand. Es riecht nach Nadeln und Erde, nach erwärmten Steinen und nach dem Bier, welches wir neben die Katze stellen. Nachdem wir in allen Richtungen Ausschau nach dem Meer hielten und keinen blauen Horizontstreifen entdeckten, klettert Louisa, meine treue Freundin, auf das Dach des Busses. Trotzdem kommt sie zu keinem besseren Ergebnis, weswegen wir beschließen, schnell weiterzufahren. Ich locke die Katze mit einer gerösteten Erdnuss an (Mehr gibt unser Proviant nicht her) und wir nehmen sie spontan mit in unseren Bus. Schnell freundet sie sich mit meiner Flickendecke an und knäult sich an meinen Hals. Die Sonne scheint mir ins Gesicht und meine Freunde fangen summend an zu singen: „I don’t like raggae! No, no! I love it! Duuuh!“ Der gleichmäßige Rhythmus trägt mich immer weiter durch die Felsen und die Freiheit. Erst als der Bus immer langsamer und die Farben immer grauer werden, wird mir bewusst, dass ich nicht auf dem Weg zum Meer bin. Angekommen im nassen Tübingen, wippe ich trotzdem ganz leicht im Takt und recke sogar mal unauffällig den Kopf. Denn wer weiß, vielleicht entdecke ich ja bald einen blauen Streifen am Horizont, wenn ich nur lange genug suche.